Rolf Lippke ist einer der letzten seiner Art. Er hält das Zepter einer aussterbenden Zunft in der Hand, die es als solches gar nicht mehr gibt. Sein charakteristisches Artefakt – ein Griff – ist mal aus Kastanienholz oder Esche, mal aus Stahl, mal schlicht, verschnörkelt in Form eines Hunde- oder Entenkopfes oder wie der Knauf eines Spazierstocks geformt. Zwischen rund 50 verschiedenen Griffen können seine Kunden wählen. Daraus „wächst“ ein Stab und ein Duzend stählerner oder hölzerner Verstrebungen. Wenn Lippke das „Konstrukt“ dann mit einem behutsamen Ruck öffnet, plöppt ein kreisrunder floraler Stoff auf. Erraten – es ist ein Schirm – es ist ein Schirm!
Rolf Lippke ist Berlins letzter Schirmmacher, denn das Handwerk wurde 1998 aus dem Berufs-Register entfernt. Einen Nachfolger wird es wohl nicht geben, denn einen Schirm-Charme (ohne Melone-) Meisterbrief kann man dafür nicht mehr machen. Lippke hat Glück – nicht nur dass er liebt, was er tut, sondern, dass er familiär bedingt aus einer 1882 gegründeten Schirmmacherdynastie aus der ehemaligen DDR, der Oberlausitz stammt. Die Familie mütterlicherseits gründete im Sudetenland und später dann im sächsischen Ebersbach das Unternehmen. 1990 wurde die Fabrik seiner Familie aufgrund der Konkurrenz aus China geschlossen.
1998 hat Lippke dann sein erstes Schirmgeschäft (Hoffmann und Boufee) in Dresden übernommen – dort war er wohl als einer der letzten jungen Handwerker der Schirmzunft auch in die Lehre gegangen. 2009 zog er aus der Oberlausitz nach Berlin – zunächst in den Bezirk Wedding, wo er das Schirmfachgeschäft Metz übernahm. Vor 3 Jahren suchte das 90 Jahre alte Traditionsgeschäft „Schirm-Schirmer“ im bürgerlichen Steglitz in der Kieler Straße einen würdigen Nachfolger. Die Vorbesitzerin betrieb es 25 Jahre (1992 -2017) und hatte es von der Familie Schirmer (manchmal ist der Name Programm) übernommen. Im bürgerlichen Steglitz ist Schirmkultur noch gefragt. Seine Kunden kommen aber aus ganz Berlin. Früher gabs ja noch vier Geschäft und jetzt nur noch ihn. Die Berliner seien beim Schirmkauf kurzentschlossen und spontan. Das schätze er hier besonders.
Das Vintage-Schaufenster Schild mit einem Firmenschriftzug aus der Zeit der Weimarer Republik glänzt (Gründung 1927) unverändert in der Vitrine, in der neben Schirmen auch Spazierstöcke, Fächer oder Lederhandschuhe und neuerdings auch vermehrt UV-dichte Sonnenschirme drapiert sind. Der trockene Sommer habe sich bemerkbar gemacht, da sei im Gegensatz zum Herbstbeginn und den ersten Regenschauern dieses Jahr wenig los gewesen.
Mit den ersten tristen, regenreichen Herbsttagen renne man ihm seinen kleinen Laden mit der integrierten Werkstatt förmlich ein. Die vielen Schirme an denen die Auftragsschildchen baumeln sprechen von der Flut der Anfragen. „Verkauf und Reparaturaufträge halten sich sonst in etwa die Waage“, sagt Lippke der 90 % aller Schirm „wieder hinbekommt“ (Stockschirm geht fast immer/ Taschenschirm wie der bekannte Knirps sei da schwieriger). Fehlt ein Ersatzteil, macht Lippke notfalls auch selbst eine vernickelte Stahlstrebe passend. „Im Osten haben wir ja gelernt zu improvisieren“, flunkert der 57 Jährige. Damit ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft zu setzen, gefalle ihm und auch billige Promotion-Schirme wiederzubeleben sei er sich nicht zu schade. Manchmal komme es dann vor, dass jemand einen Schirm reparieren lasse, obwohl das teurer sei, als der Schirm beim Kauf gewesen sei. Die Erinnerungen ist dann mehr wert, als der Schirm selbst, das verstehe er. Allerdings nimmt er alle – auch die Lieblings- und Sorgenschirme nur mit Vorkasse entgegen. Scheint die Sonne erst wieder, vergessen die Leute gerne mal ihren Schirm abzuholen und dann stapeln die sich in dem kleinen Reparaturraum.
Und was macht einem guten Schirm aus?
Leicht und stabil solle er sein: Das hänge von der Strebenanzahl aus Stahl oder Fiberglas ab. Die meisten seien 8-teilig – 12-teilig sei die Premiumvariante. Meistens würden Taschenschirme verlangt, jene faltbaren Modelle, die Kunden wie die „Tempo – Taschentücher“ immer als Knirpse bezeichnen (was falsch ist, aber die 1928 gegründete Kultfirma ist eben die bekannteste). 27 Zentimeter lang mit Automatik sei da die Standardgröße. Nur 20 Zentimeter lang und „ultraleicht“ ist der mit 6 Streben (Achtung:nicht sturmsicher), nur 18 cm lang sei der Kleinste!
Der besonders dichte Bezugsstoff sollte aus echter Regenschirmseide sein. Aber diese ist Mangelware: In zig Farben und Mustern bezieht der Schirmmacher-Nachfahre den Spezialstoff noch aus alten Lagerbeständen. Diese raren Schätze ruhen im Souterrain seines Ladengeschäfts in Steglitz. Und wenn von den deutschlandweit noch ca. 10 Schirmacher-Läden (3 befinden sich im Osten: Berlin, Cottbus Weimar und etwa 7 sind in Westdeutschland) wieder einer schließt, übernimmt der Berliner Vertreter der aussterbenden Zunft meistens einen Teil des Bestands. Eine große Stoffbahn neu zu kaufen, lohne sich nicht. Braucht es doch nur 2,50 m pro Schirm.An die 30 Stoffmodule werden pro Model wie ein Kuchen zusammengenäht. Der edelste sei der Krawattenstoff, wobei er auf einen Schirm der Edelschirmmarke Maglia zeigt. Diese italienische Kultmarke vertreibt er für Kenner und Schirm-Gentlemen, neben anderen internationalen Labels auch im Laden.
Der robuste Stockschirm ist Lippkes Liebling. Davon gibt’s eine große Auswahl internationaler Hersteller (deutscher und österreichischer, französischer und italienischer Firmen). In den 3 Varianten „Auf und zu“, „ Doppelautomatik“ und „manuelle“ sind die Segmente der Schirmöffnung-Mechanik zu kategorisieren.
Wer keinen 0815 Schirm „von der Stange“ haben möchte, kann sich beim Schirmmeister ein handgefertigtes Einzelstück bestellen, das er von A-Z in der kleinen Werkstatt im Hinterzimmer zusammenfräst. Die Stoffe näht er zu Hause (er pendelt noch in die Oberlausitz). Alle Gestelle fertigt er im Hinterzimmer seines Ladens. Beeindruckend alt wirkt die Federeinschneidemaschine, mit der der Hohlraum für die Feder am Schirmstock gefräst wird. Die hat wie das Schirmer Schirmgeschäft auch ganze 90 Jahre auf der Kerbe und sei ein Erbstück vom Großonkel aus dem Sudetenland. Vor ein paar Jahren stellte er jährlich gerade mal noch drei Dutzend Schirme selbst her. Mittlerweile würden wieder mehr Kunden den Wert eines in Handarbeit produzierten Schirms erkennen. Bei guter Pflege halte der lebenslang.
Und der Kunde?
Der nimmt es entweder gelassen und kommt mit dem „Billo-Promoschirm“ zur Reparatur oder will gleich den Schirm fürs Leben. Viele seiner KundInnen hängen sehr emotional an ihren Schirmen. Männer wollen einen stabilen Schirm. Ältere, meist männliche Menschen haben ihn sogar mit einer „Fritzgriff-Ausführung“ in der Doppelfunktion als „unauffälligen“ Geh-Stock als täglichen Begleiter dabei. Frauen wollen lieber die kleinen, handtaschen-kompatiblen Taschenschirmformate. Manchmal ist es auch ein Reiseandenken oder ein Erbstücke.
So kommen manche seiner recht jungen Kunden schon in der 3. Generation. „Die wissen manchmal nicht damit umzugehen „Druff drücken und rausziehen“ heisst dann Lippkes Anleitung für den Teleskop Taschenschirm. Vor Kurzem wäre eine elegante Dame vorbeigekommen, die den Laden schon als Kind kannte (Sie war allerdings schon 99 Jahre alt und sah aus wie 80). Gerührt war Lippke auch als ihm eine andere Lady einen 60 Jahre alten Knirps mit Originalhülle geschenkt habe. Die Dame wollte das gute Stück einfach loswerden und in guten Händen wissen – und das ist er heir mit hoher Sicherheit. Eine andere Kundin hatte sich vor lauter Erinnerungs-Nostalgie an einen lieben Verwandten erst geweigert einen löchrigen Schirm neu beziehen zu lassen. „Sie meinte zu mir im vollen Ernst, dass sie ihn doch nur bei Regen benutzen würde“, erzählt der Schirmmacher amüsiert.
Den Schirm habe sie ihm dann aber doch anvertraut, der ihn mit sicherem Gespür wiederherrichten wird. Und genau das mag „Mister Parapluie“ so gerne an seinem täglichen Schirmgeschäft: „Für mich sind diese Nuancen der Anfragen interessant. Es gibt immer andere Modelle und ich liebe die Vielseitigkeit des Wieder- und Herstellens.“
So wirkt der Laden des passionierten Schirm-Handwerkers wie ein kaleidoskopische Welt der Schirme: Klassische Ausführungen hängen neben geschwungenen Pagodenschirmen, Schirme mit dezent karierten und geometrischen Mustern neben einem Paraplü mit Rüschen und floralem Design. Kunterbunt wirkt die Palette der Taschenschirme. Und wenn dann die Türglocke bimmelt und eine Kundin über die mit Schirmen bedruckte Fussmatte hereinkommt, um ihrer Tochter einen Schirm fürs Leben im englischen Stil, der auch in einen Schulranzen passt, zu schenken, ist der Mitt-Fünfziger strahlend in seinem Element.
Schirme herstellen und reparieren will er noch weit übers Pensionsalter – zu wünschen sei ihm, dass die Zunft der Schirmmacherei vielleicht bis dahin durch eine neue, an alten Werten interessierten Handwerksgeneration wieder aus der ad Acta-Schublade ans Licht, die Sonne und den Regen gezogen wird.
Preise:
Taschenschirme kosten bei Schirmer von 39 €-90 €
Stockschirme von 29 €-300 € inkl. der luxuriösen, internationalen Fremdmarken für den „Gentleman von heute“
Text und Fotos: Anke Sademann
Werkstattfoto: Lippke privat / Historisches Archivfoto der Schirmfabrik Oberlausitz
Adresse:
Schirmers Schirmfachgeschäft
- Adresse: Kielerstr. 6 · 12163 Berlin
- Telefon: 030 4515989
- Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sbd. 10–14 Uhr, www.schirmmitcharme.de
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